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My little winterwonderland

Ich bin nun seit genau 2 Monaten 12 Tagen in meinem neuen Zuhause. Und ich muss sagen, die Zeit war notwendig, um anzukommen. In der ersten Zeit geht es Auf und Ab und die Emotionen fahren Achterbahn. In einem Land, in dem alles so anders erscheint, als man es von seinem Eigenen gewohnt ist, gibt es viele kleine und große Hürden zu meistern. Man fühlt sich wie ein kleines Kind, das erst allerlei Fähigkeiten neu erlernen muss. Und genauso ist es auch.


Die Sprache ist anders, die Schrift ist anders, die Kultur und damit verbunden auch die Natur der Menschen ist anders, das Essen ist anders, und und und. Man ist dem ausgeliefert und startet von Null. Es gibt nichts Interessanteres im Leben eines jungen Menschen, als diese Erfahrung zu machen.


Seit Anfang meines Aufenthalts bis jetzt habe ich sehr viel über mein eigenes Land und meine eigene Kultur gelernt. Wenn man so eine Reise plant, dann träumt man davon, wie viel man von einer neuen Kultur kennenlernt, aber dabei bedenkt man nicht, was für einen Einfluss das auf die eigene Person hat. Ich habe in 2 Monaten und 12 Tagen mehr über mich und mein Heimatland erfahren als jemals zuvor. Ich habe deutsche Gerichte gekocht, die ich bis dato noch nicht einmal kannte oder noch nie zubereitet habe. Ich habe Menschen von der DDR und BRD berichtet und dabei selbst erst realisiert, was Deutschland im Wandel der Zeit alles durchgemacht hat. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind immer noch sichtbar und die meisten Japaner, denen ich begegnet bin, kennen sich höchstens mit dem Westen aus. Dadurch bringe ich etwas frischen Wind in die Köpfe der Menschen.


Ich habe realisiert, dass Weihnachten in meinem Leben die einzig wirkliche Tradition war, die aufrechterhalten wurde. An Heiligabend der Kartoffelsalat mit Würstchen, am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag die Gans oder Ente mit Familie oder auch Freunden (der "ausgewählten" Familie). Es war mir wichtig, dass wir an Heiligabend das kleine Dreiergespann bestehend aus meiner Mutter, meinem Bruder und mir sind, weil es mich an vergangene Tage erinnert hat, an eine harte Zeit, in der es nur uns drei gab. An eine Zeit, die mich bis heute sehr stark mit diesen beiden Menschen verbindet, weil sie für mich die wunderbarste Familie ist, die ich mir wünschen kann, auch wenn sie klein ist. Weil wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen sind und weil ich es liebe, wenn beide genüsslich die Augen schließen und mir sagen, wie köstlich der Kartoffelsalat ist, für den ich stundenlang in der Küche stand.


Am ersten Weihnachtsfeiertag war es mir wichtig, zu meiner Oma zu fahren. Nach Greifswald, in den Ort, in dem ich geboren wurde. Zurück ans Meer. Nicht nur, weil meine Oma die großartigste Gans oder Ente zubereiten kann, sondern weil ich mir gewünscht habe, dass auch dieser Teil der Familie ein Teil des Ganzen bleibt. Wir haben unsere Probleme und jedes Jahr an Weihnachten eskaliert irgendetwas aufs Neue, aber das ist ja in jeder Familie so. Es war mir trotzdem immer wichtig.


Dieses Jahr in Japan werde ich keinen Kartoffelsalat machen. Ich werde mich nicht stundenlang in die Küche stellen für etwas, was von meinem Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) nicht so gewürdigt werden kann, wie mein Bruder und meine Mutter es tun. Selbst wenn es ihm schmeckt, würde er niemals verstehen, was es bedeutet. Er könnte niemals die Liebe und Zuneigung fühlen, die ich darin investiere, weil sie nur meiner engsten Familie gilt. (Liebe Iris, falls du das liest: Du bist in all dem mit inbegriffen. Danke für die schöne, gemeinsame Weihnachtszeit. Auch du bist für mich ein Teil meiner engsten Familie.)


Dieses Jahr in Japan werde ich an Heiligabend in einen Club gehen und mich betrinken. Nicht aus Frust, aus Einsamkeit oder weil ich meine Familie vermisse. Ich tue es, weil mein Leben im Umbruch ist. Und weil ich es kann. Weihnachten ist in Japan kein Familienfest. Hier ist es ein Tag, an dem man Zeit mit seinem Liebsten verbringt. Bei mir in diesem Fall Alkohol (kleiner Scherz am Rande :-P ). Vielleicht wirke ich traurig oder bedrückt, in Wahrheit freue ich mich jedoch darauf, die Tradition zu brechen und etwas zu tun, was ich niemals in Erwägung gezogen hätte. Ich bin mir sicher, ich werde eine weitere, geile Nacht in Aomori-City haben (mit Sicherheit gibt's einen Haufen Xmas-Parties, yay!).


Dieses Jahr in Japan werde ich am ersten Weihnachtsfeiertag in ein großartiges und teures Sushi-Restaurant eingeladen und mir richtig hart gönnen. Ich werde keine Gans oder Ente zubereiten, auch wenn mein Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) das gerne so hätte. Er versteht nicht, wie viel Arbeit das ist und dass es mir hundertprozentig nicht beim ersten Mal - ohne die Hilfe meiner Oma - gelingen kann.


Dieses Jahr in Japan ist für mich alles anders, und es ist genau so, wie ich es mir gewünscht habe. Mein Leben macht einen großen Sprung, eine wundervolle Wendung, mit Aussichten auf neue Perspektiven und Möglichkeiten. Ich habe ein neues Zuhause gefunden, in dem ich mich immer wohler fühle und mich immer mehr etabliere. Im Moment versuche ich, nicht daran zu denken, dass es eine zeitliche Begrenzung innehält, da ich mir sicher bin, dass es nicht der letzte Aufenthalt hier sein wird.

 

Manchmal braucht es nur einen Moment, der alles verändern kann. Der dir hilft, dich allem endgültig anzupassen und dankbar dafür zu sein, was du für eine Chance bekommen hast. Und manchmal ist dieser Moment banal und unbedeutend für andere Menschen, aber für dich ist er entscheidend und das ist das einzig Wichtige. Für mich war dieser Moment vor zwei Tagen, am Dienstag, den 06.12.2016, und so banal es auch klingen mag, er beinhaltet eine Apfelfarm.


Mein Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) kam an diesem Morgen in meine kleine Schule und sagte mir, dass wir heute einen etwas längeren Trip mit dem Auto unternehmen, da er zu einer östlich gelegenen Apfelfarm fahren möchte, um dort einen Haufen Äpfel zu kaufen. In Japan sind die Standards für schön aussehendes Obst sehr hoch und so hat ein Apfelbauer einen Haufen wunderschöner, praller, roter Äpfel übrig, die lediglich kleine Fehler aufweisen. Besagter Apfelbauer bat meinem Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) einen guten Preis an und so fuhren wir etwa anderthalb Stunden Richtung Norden in den kleinen Ort Nagawa.

 

Die Autofahrt war angenehm, wir unterhielten uns viel. Es war das erste Mal, das mein Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) mir ein Kompliment zu meinen Fortschritten im Japanischen machte. Ich sagte ihm, dass ich Aomori sehr schön finde und zurückkommen möchte. Er sagte: "In Tokyo und Osaka gibt es viele Unis, an denen man studieren kann.", woraufhin ich erwiderte: "In Hirosaki gibt es auch eine Uni." Überrascht sah er mich an. Er hätte niemals erwartet, dass es mir HIER so gut gefällt. Dass ich HIERHER zurückkommen möchte. Wir haben über sehr vieles gesprochen und das fast alles auf Japanisch. Viele Japaner sagen, wenn sie dich Japanisch sprechen hören, "Nihongo jyouzu!", was so viel heißt wie "Dein Japanisch ist toll!", aber ein Kompliment von meinem Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) zu bekommen ist etwas anderes. Normalerweise antworte ich mit "Iie, iie, mada yokunai...", was leicht heuchlerisch klingt und bedeutet "Ach nein, nein, ich bin noch nicht sehr gut.", aber als mein Einsatzstellenleiter (NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*) mir sagte, dass es schon sehr gut ist, habe ich ehrlich geantwortet und gesagt: "Ich lerne so viele Menschen kennen und übe das Sprechen jeden Tag. Ich lerne jeden Tag mit einem Buch ("A dictionary of basic japanese grammar"), das mir ein amerikanischer Lehrer gegeben hat. Ich lerne jeden Tag ein oder zwei neue Kanji. Es ist mir wirklich wichtig, die Sprache gut zu beherrschen, weil ich in der Lage sein möchte, mich über mehr als nur Essen unterhalten zu können." An diesem Punkt bin ich zwar schon, aber ich möchte noch weiter kommen. Mein Wunsch ist es, Japanisch irgendwann auf demselben Level wie Englisch zu beherrschen und ich glaube nicht, dass dafür ein Jahr ausreichend ist.

 

Auf dem Weg zur Apfelfarm verließen wir die Gegend Tsugaru, in der wir wohnen, und betraten ein anderes (ehemaliges) Herrschaftsgebiet namens Nanbu. Tsugaru und Nanbu waren zwei in der Edo-Zeit voneinander getrennte Herrschaftsgebiete und das wird anhand vieler Faktoren deutlich sichtbar. Die Umgebung hat einen ganz eigenen Charme, die Häuser sind ganz anders gebaut und auch die Natur der Menschen ist völlig anders. In Tsugaru sind viele Leute eher schüchtern und zurückhaltend, außerdem immer schnell unterwegs und "quick-tempered". In Nanbu sind die Leute unglaublich aufgeschlossen, freundlich und witzig. Zusätzlich sprechen sie viel langsamer und gelassener, weshalb eine Konversation für mich viel einfacher war. Ich habe heute erfahren, dass eine Kollegin im Kindergarten ursprünglich aus Nanbu stammt und konnte dann endlich verstehen, warum sie so viel netter und aufgeschlossener ist als andere Kolleginnen. Sie erzählte mir, dass selbst sie Probleme hatte, als sie nach Tsugaru gezogen ist. Den Dialekt versteht sie immer noch nicht ganz! Da sieht man mal, dass selbst Orte, die einander so nah erscheinen, so weit voneinander entfernt sein können.


Als wir ankamen und aus dem Auto ausstiegen, war ich von der Schönheit der Apfelfarm geblendet. Und ab hier wird's für viele banal; denn die Apfelfarm war matschig und nass, das Wetter war furchtbar. Die Bäume waren kahl und kalt, weil es Winter ist. Aber für mich war es der Moment, in dem ich die Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäume erblickte, in deren Horizont sich die Berge erstreckten. In meinem kreativen Kopf malte ich die schönsten Bilder, mit blauem Himmel und Sonne, mit Bäumen, die Blätter und Früchte tragen und der Familie des Apfelbauern, die alle gemeinsam dort arbeiteten. Ich hoffe sehr, dass ich dorthin zurückkehren kann, wenn der Winter vorbei ist, um Fotos zu machen und herauszufinden, ob das Bild in meinem Kopf der Wahrheit entspricht oder nicht.


Die Familie des Apfelbauern betreibt nicht nur die Farm, sie haben auch ein kleines Bauernhotel, in dem übers Jahr verteilt hin und wieder Kinder aus Tokyo oder Osaka kommen, um für drei Tage die Farmarbeit kennenzulernen. Es ist ein großes Problem, dass in Japan die jungen Leute alle vom Land in die Großstädte ziehen, weil sie dort mehr Geld verdienen können. Kinder, die in der Stadt aufgewachsen sind, haben nicht mal mehr einen Bezug zur Farmarbeit - genauso wie ich. Obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens nicht in Berlin, sondern am Rand verbracht habe, war Farmarbeit für mich nie ein Begriff. Hier, in Kominato, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Zwiebeln gepflanzt und mich um Spargelfelder gekümmert. Der Moment, in dem deine Zwiebelchen sprießen und gedeihen ist ein Moment, den man nur nachvollziehen kann, wenn man ihn selbst erlebt hat. Viele Menschen aus meiner Vergangenheit würden wahrscheinlich versuchen, diese Erfahrung klein zu reden oder sich über mich lustig zu machen, aber mir ist klargeworden, wie wundervoll und wichtig genau diese Art von Arbeit ist. Ich hoffe sehr, dass ich nächstes Jahr im Frühling auf die Apfelfarm zurückkehren kann, um dort bei der Farmarbeit zu helfen. Es ist eine wunderschöne Vorstellung, auch diese Art von Farmarbeit kennenzulernen und ich bin sogar bereit, dafür ein Wochenende oder ein paar Tage Urlaub zu investieren.

 

Und du, du hast nun 1810 Wörter gelesen und fragst dich: "Was soll der Schwachsinn mit der Apfelfarm?", aber du liegst falsch. Dieser kurze Einblick in den Ort Nanbu, die Apfelfarm, die Natur drumherum und die Art der Menschen, denen ich dort begegnet bin, hat mir klargemacht, wie vielseitig Japan ist. Zwei Orte, die so nah beieinander sind, können so verschieden sein und dadurch ihre ganz eigene Art der Faszination ausüben. Ein Ort, der in deinem kreativen Kopf (wenn du denn einer dieser Menschen bist) solche Bilder wachwerden lässt, hinterlässt bleibende Eindrücke. Für mich war es dieser Moment, in dem mir klar wurde, dass es Zeit wird, neue Wege einzuschlagen. Ich habe mich in Berlin immer wohl und sicher gefühlt, es ist eine schöne Stadt, die ich sehr zu schätzen gelernt habe. Aber es kann auch eine Endstation sein, eine Endstation, in der man sich eingekesselt und zurückgelassen fühlt. Ich habe keine konkreten Pläne für die Zukunft, aber ich weiß jetzt, dass Berlin lediglich eine comfort zone für mich bereithält. Und für diese Erkenntnis waren all die Monate Arbeit im Hyänenkäfig, all die emotionalen Aufs und Abs bezüglich des Freiwilligendienstes, all die Startschwierigkeiten im neuen Land und all die schmerzhaften Abschiede notwendig. Ich musste nach Japan kommen, um das zu realisieren, was ich tief in meinem Inneren schon lange wusste.

 

Danke fürs Lesen. Ich wünsche allen eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Und auch, wenn bisher nicht viele sich die Mühe gemacht haben, einen Kommentar zu schreiben, erwähne ich an dieser Stelle erneut, dass ich mich immer sehr über Kommentare freue! ;-)

 

Jya matane,
Eure Eva


(NACHTRÄGLICH GEÄNDERT*)  Erklärung:
Bei einigen Namen habe ich mich im Nachhinein entschieden, sie aus Privatsphäregründen nicht mehr direkt zu nennen. Auch wenn es sehr cringey ist, meine alte Schreibweise und teilweise unreflektierte Art über die Dinge zu urteilen ohne neue Bearbeitung lediglich überfliegen zu müssen, habe ich mich entschieden, die Gesamtheit der Artikel nicht zu verändern, um die Essenz jener Zeit zu bewahren.


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