Das andere Ich

Ich blicke auf alte Fotos zurück und erkenne sie nicht wieder. Wer ist sie und wohin hätte ihr Lebensweg sie verschlagen, wenn sie niemals die schicksalhafte Möglichkeit bekommen hätte, für einen dreiwöchigen Ausflug nach Japan alles stehen und liegen zu lassen?

Es gibt viele schöne Zeiten, an die ich mich gerne zurückerinnere - die meisten davon habe ich mit meiner allerliebsten Freundin verbracht. Die wahre Natur meiner alltäglichen Gefühlswelt war jedoch dunkler als viele annahmen und meine Taktik des Betäubens hatte ein unvermeidbares Ablaufdatum.


Auf den vorhergehenden Fotos beinahe wie eine Timeline erkennbar ist auch mein emotionaler Abstieg. Die ersten zwei Fotos wurden auf einer Reise nach Frankreich gemacht - die Kamerarbeit hat dabei ununterbrochen meine liebste Marcia übernommen, die auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Im Jahr darauf hatte ich meinen Abiball, ein für mich besonders aufregendes Event, für welches ich beinahe mein gesamtes Taschengeld auf den Kopf haute. Bis heute ist dieses Foto mit meiner Mutter und meinem Bruder - meiner "kleinen Familie", mit der ich durch dick und dünn ging und die dementsprechend einen Großteil meiner Charakterbildung beeinflusst hat - eines meiner absoluten Lieblingsbilder.

Das Foto, welches sich am Ende der Schlange befindet, steht im starken Kontrast zu der Glückseligkeit der vorhergehenden Bilder. Meine Partnerschaft, die ich auf den anderen Fotos bereits führte, fing zu bröckeln an und ich fühlte mich verloren.

Mein Leben lang hatte ich darauf hingearbeitet, Germanistik zu studieren, weil mir eingeredet wurde, entweder das oder Journalismus wäre notwendig, um gute Texte bzw. Bücher zu schreiben. Und so fing ich direkt nach dem Abitur mit einem Studium in der Germanistischen Linguistik gekoppelt mit Englisch an - die zwei Fächer, welche mir auch während der Schulzeit am Meisten lagen.

Doch ich langweilte mich. Ich langweilte mich schrecklich. Das führte dann dazu, dass ich begann, mich regelmäßig mit (leichten) Substanzen zu betäuben. Mit regelmäßig meine ich täglich - und täglich wurde die Tageszeit immer weniger beachtet. Auf dem Foto befinde ich mich auf einem meiner Tiefpunkte, welcher durch meinen damals wundervollen Lieblingsfrisör etwas erträglicher gemacht wurde. Er hatte mir einen neuen Style verpasst, in welchem ich mich seit dem Abitur zum ersten Mal wieder schön fand.

Ich erinnerte mich an einen Unterrichtstag, an dem ich in einem Seminar zu Semantik in der deutschen Sprache einen Blitzgedanken hatte, der meine Einstellung gegenüber dem Studium für immer veränderte.

 

Um gute Bücher zu schreiben brauche ich keine Lehrstunde in Semantik, ich brauche Lebenserfahrungen. Ich brauche Geschichten, die ich erzählen kann. Um gute Bücher zu schreiben muss ich nicht hier sitzen und mich langweilen, ich muss raus in die Welt und Dinge erleben!

 

Und so beschloss ich letztendlich, mein Studium abzubrechen.


Manchmal frage ich mich, was aus dieser Eva wohl geworden wäre, hätte ich damals nicht die schicksalhafte Möglichkeit bekommen, für einen dreiwöchigen Ausflug nach Japan zu gehen. Bis zum heutigen Tag bin ich jedoch dankbar dafür, dass ich damals mit der Freundin meiner besten Freundin gemeinsam diese Reise über die halbe Welt antrat.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals dachte, dass mein Lebensweg bereits in Stein gemeißelt wäre. Ich würde meinen Partner heiraten, vermutlich Kinder bekommen und unbewusst in meinem Elend verkommen. Wie unglücklich ich war, wurde mir erst so richtig vor Augen geführt, als ich über 10.000km Luftlinie von 'zuhause' entfernt war. Das erste Mal ohne Betäubungsmittel 3 Wochen am Stück - ich habe viel geweint, schlecht geschlafen und war stressmäßig ununterbrochen an meiner Grenze. Doch ich war glücklich - so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Nach meiner Rückkehr dauerte es noch eine Weile, bis ich mich von meinem Partner trennte, aus der gemeinsamen Wohnung auszog und meinen neuen Weg antrat.

Er machte sich über japanische Wörter lustig, die ich neu lernte, da ich anfing, wöchentlich Japanisch-Unterricht zu nehmen. Und am Ende sagte er so etwas zu mir wie: "Ich werde Japan niemals verzeihen, dass es dich mir weggenommen hat. Ich hasse Japan!", was mir auch heute noch sehr in Erinnerung geblieben ist. Vor allem für sein eigenes Seelenheil hoffe ich, dass er diese zornige Einstellung ablegen konnte und heutzutage glücklich ist. Jede Beziehung, die endet, ist auch ein neuer Anfang und auch wenn es während der Trennung wehtut, so wird doch oft im Nachhinein ersichtlich, warum sich die Wege separieren mussten.

Und auch trotzdem bin ich dankbar für die Zeit mit ihm - der Großteil unserer Partnerschaft war schön, er war mein 'High School Sweetheart' und ich werde die Erinnerungen an ihn und unsere gemeinsame Zeit für immer warm in meinem Herzen behalten.