Lebenswende

Im Jahre 2014 erzählte mir eine Freundin, dass sie nach Japan zu einem zweiwöchigen Freiwilligendienst aufbrechen wolle, jedoch aufgrund der Entfernung ungern alleine fliegen würde. Ohne groß darüber nachzudenken, bat ich ihr an, mitzukommen. Irgendwann einmal Japan zu besuchen ist sicherlich der Traum vieler Leute - ich war da keine Ausnahme. Dass diese Freundin mir also plötzlich diese Möglichkeit in Aussicht stellte, fühlte sich wie die perfekte Gelegenheit an.

Ich war damals unklar wie es mit mir weitergehen würde - stagnierend in meiner Beziehung sowie Lebenssituation bestand mein Alltag größtenteils aus Betäubung gepaart mit Junkfood und Videospielen. Studentin war ich nur auf dem Papier, denn bis auf ein paar Seminare und Vorlesungen bewegte ich mich kaum aufs Campusgelände. Generell bewegte ich mich kaum aus dem Haus - lediglich die Notwendigkeiten im Supermarkt besorgen (also Ben&Jerry's, gefrorene Pommes und Tabak...) und dann schnell wieder heim. Bei Einladungen durch Freunde, die durch meinen Lebensalltag auch immer rarer wurden, ließ ich mich in der Regel nur locken, wenn es sich um ein 'chilliges Treffen im Park' o.Ä. handelte.

Dementsprechend ein 'Freiwilligendienst in Japan'... das klang so neu und berauschend, und wenn ich ehrlich bin, bin ich heutzutage schwer davon beeindruckt, dass ich sofort mit an Bord war. Das eigene Haus kaum verlassen wollen aber in ein Flugzeug steigen und über die halbe Welt fliegen? Die Eva der Zukunft würde mir über diese Entscheidung auf ewig zu Dank verpflichtet sein.

Wir planten insgesamt eine Reise über drei Wochen. Wenn wir schon einmal in Japan waren, dann müssten wir natürlich auch die drei wichtigsten Touri-Orte abklappern; Tokyo, Osaka und Kyoto. Damals dachte ich, dass es eine einmalige Erfahrung sein wird, Japan zu bereisen - wie es vermutlich jedem gehen würde. Um die Reise überhaupt möglich zu machen, fing ich sofort an zu arbeiten. Ich erinnere mich, dass ich den Vater meines damaligen Partners um Hilfe bat, mir mein Flugticket vorzustrecken, damit wir die Flüge rechtzeitig buchen konnten. Ich frage mich, ob mein Ex-Partner seinen Vater dafür genauso verfluchte wie Japan selbst, denn wenn man es genau nehmen möchte, war auch dies einer der Faktoren, der mir den Weg für meine heutige Situation ebnen würde.


Nach unserer Ankunft waren wir gejetlagged, wahnsinnig überstimuliert durch die Begegnung mit einer neuen Kultur und konnten kaum fassen, dass wir um die halbe Welt gereist waren. Ich erinnere mich noch an viele schöne Momente zu zweit, in denen wir uns über unsere Eindrücke und Gefühle unterhielten, während wir extrem süßen "Kaffee" tranken und Kippen rauchten. Die Einkäufe in sowohl Convinience Stores als auch normalen Supermärkten stellten sich als überraschende Herausforderungen dar, da wir über keinerlei Japanischkenntnisse verfügten und deshalb immer wieder mit unseren Entscheidungen ins Klo griffen. Aber eine gute Zeit hatten wir trotzdem.

Im Camp selbst blieben wir zwei Wochen. Relativ abgeschieden von der Welt in einem kleinen Ort namens Hirata, welcher sich in der Präfektur Shimane befindet, würde diese Gruppe aus jungen, bunt zusammen gewürfelten Leuten den Anwohnern dabei helfen, ein Fest vorzubereiten, welches nur alle 30 Jahre abgehalten wurde. Da ich damals noch kein Japanisch verstehen oder sprechen konnte, kann ich auf die Details nicht eingehen, da ich sie wortwörtlich nicht verstand. Doch ich erinnere mich daran, dass wir viel Bambus abholzten und verarbeiteten, weil dieser dort wie Unkraut wuchs (ich lernte später, dass dies ein relativ alltägliches Problem überall in Japan ist). Wir reinigten außerdem das Gelände eines ortseigenen Shinto-Schreines, auf welchem das Fest abgehalten werden würde.

Wir hatten allerdings auch viel Freizeit und von den Veranstaltern vorbereitete Freizeitaktivitäten, an denen wir teilnehmen konnten. So besuchten wir zum Beispiel an einem Tag das Meer (Bild 3), statteten dem in Japan äußerst berühmten Shinto-Schrein Izumo Taisha - der uns damals natürlich absolut unbekannt war - einen Besuch ab (Bild 6), aßen Soba (Bild 5) und machten Soba selbst (Bild 7), sowie die Vorbereitung und Umsetzung von Nagashi Soumen (Bild 1) - eine beliebte Aktivität im Sommer, bei der Nudeln in einem Bambusrohr in Wasser entlanggleiten und alle Anwesenden sich um besagtes Rohr versammeln, um dann mit ihren Stäbchen zu versuchen, die Nudeln aus dem Wasser zu fischen. Klingt einfacher, als es ist, denn das Rohr ist so angelegt, dass die Nudeln relativ zügig an einem vorbeischnellen! Damals konnte ich noch kaum mit Stäbchen umgehen, weshalb ich nicht sehr erfolgreich war. Dass ich trotzdem extrem viel Spaß hatte, ist glaube ich auf dem Foto gut erkennbar. Sowohl die "Schälchen", als auch die Stäbchen und das Bambusrohr selbst haben wir mithilfe der Anwohner*innen alles handgeschnitzt! Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich extrem lange mit der Perfektion meiner Stäbchen beschäftigt war. Ich nahm sie als Andenken mit nach Deutschland, doch da sie aus frischem, unbearbeitetem Bambus geschnitzt wurden, schimmelten sie später im Besteckkasten, bis ich sie wegschmeißen musste. Das war sehr schade!

Die restliche Freizeit verbrachte ich oft damit, über mein Leben und meine generelle Situation nachzusinnen. Die Klarheit, die diese 3 Wochen ohne Betäubungsmittel mit sich brachten zeigten mir auf, dass obwohl ich meinen Partner sehr geliebt habe, die Beziehung selbst nicht natürlich und gesund war. Ich realisierte, dass es auf diese Weise nicht weitergehen konnte. Vielen Dank an dieser Stelle noch einmal an Leona, dass sie mir in dieser Zeit emotional so viel Beistand geleistet hat.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach der Ankunft in Deutschland mich darauf freute, dass meine Mutter mich abholen würde und ich mit ihr über meine neuen Erkenntnisse sinnieren konnte. Mein damaliger Partner empfand es als süße Geste jedoch, sich an dem Tag auf Arbeit frei zu nehmen, um gemeinsam zum Flughafen zu kommen. Als ich ihn erblickte, während wir auf unser Gepäck warteten, brach eine Welt für mich zusammen und Leona litt mit mir. Danach trennten sich unsere Wege und auf der Heimfahrt war das Auto erfüllt von dicker Luft.

Als wir wieder zuhause ankamen und ich mich ohne eine Sekunde alleine mit meiner Mutter wieder in meinem alten Trott wiederfand, war das erste wonach ich griff das allzu vertraute Mittel der Betäubung. Es würde noch ein paar Monate dauern, bis ich bereit war, diese Beziehung endlich zu beenden.

Was mir dabei half, an der Erinnerung von Shimane und der wundervollen Lebenserfahrung dort festzuhalten war der Japanisch-Unterricht, den ich im Folgenden wöchentlich besuchte. Und so fing ich an, von einem einjährigen Aufenthalt in Japan zu träumen...