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Dissoziation

Manchmal, wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich in das Gesicht von jemandem, den ich nicht kenne. Dies geschieht meist vor dem Schlafengehen oder nach dem Aufwachen am frühen Morgen. Ich bin einfach eine Sekunde lang so verwirrt von dem Gegenüber, welches mir in die Augen sieht und meinem Gehirn versucht, mitzuteilen, dass ich es bin.

 

Die letzten 10 Jahre sind wie im Flug vergangen, beinahe an mir vorbeigeflogen. Mit dem Anstehen meines 30ten Geburtstages fühle ich mich durcheinander und frage mich, wer ich bin und was mich ausmacht.

Manchmal denke ich an kleine Details zurück, die in meinem früheren Leben so ausreichend vorhanden zu sein schienen. Wie Döner zum Beispiel. Aber auch tiefergreifende Dinge wie die Beziehungen zu Menschen, die seit meiner Geburt an meiner Seite waren und mir immer viel bedeutet haben, aber die sich unter anderem aufgrund von Distanz Stück für Stück verändern.

 

Es ist, als hätte mein Umzug ins Ausland nicht nur einen wichtigen Meilenstein markiert. Viel mehr als das fühlt es sich an, als hätte ich ein neues Leben begonnen und ein altes hinter mir gelassen. Ich fühle mich sehr geehrt, diese Erfahrungen machen zu dürfen und nicht mein ganzes Leben lang an einem Platz zu verweilen. Auch in der Zukunft gibt es noch Dinge, die ich gerne erreichen würde, aber hier bin ich schon einmal grundlegend da angekommen, wo ich hinwollte. Den Rest des Weges lasse ich auf mich zukommen.

 

Manchmal erinnere ich mich an mein altes Leben. Wie entspannt es war, jeden Tag zur Videothek zu gehen und mir die Filme für den jeweiligen Abend auszusuchen. Um dann mit meiner Mitbewohnerin aus dem Fenster zu hängen und "uns auf den Film vorzubereiten". Es war schön, manchmal kamen wir auch gar nicht bis zum Film schauen, weil wir stattdessen den Rest des Abends gemeinsam in Gespräche versanken. Unweigerlich sind dies schöne Erinnerungen - und gleichzeitig sehne ich mich nur teilweise dahin zurück. Denn ich erinnere mich auch daran, dass es eine Zeit in meinem Leben war, in der ich unfähig war, Kreatives zu kreieren. Immer in meiner Kreativität und Weiterentwicklung gebremst erinnere ich mich auch heute noch sehr klar daran, wie ich jeden Tag wortwörtlich nur in den Tag hineingelebt habe. Für meine persönliche Entwicklung, die ich mir immer nur erträumte, deren Realität ich aber nicht in der Lage war zu erschaffen, sorgte dies für tägliche innere Qualen. Und so bin ich heute dankbar, dass ich es geschafft habe, mich aus dem Sofa hochzubewegen und alle Kraft zusammenzunehmen, um einen Schritt ins Ungewisse zu wagen.

 

Manchmal erinnere ich mich daran, wie es war, mit meinen Katzen in Träumen auf gemeinsame Reisen zu gehen, oder wie wir am frühen Morgen unsere indiskutablen Kuscheleinheiten genossen. Auch kleinere Erinnerungen springen mir in meinen Kopf, wie ich beispielsweise philosophisch-angehauchte Konversationen mit Freunden meines Bruders hatte, die durch unseren Altersunterschied immer etwas älter waren als ich und mir so zu interessanten neuen Erkenntnissen verhalfen.

 

Das Gehirn ist so gut darin, die guten Erinnerungen herauszupicken und sie größer zu machen, als sie waren. Obendrein ist es außerdem sehr gut darin, mir weiszumachen, dass die guten Erinnerungen von früher den schlechten Erfahrungen, die ich im Moment erlebe, überlegen seien - heißt, "früher war alles besser" und vielleicht sollte ich mich ja doch lieber wieder zurück auf das Sofa setzen.

 

Der Irrtum dabei ist mir jedoch ganz klar - egal, was für schwere Zeiten ich momentan durchmache, einen Weg zurück auf das Sofa gibt es nicht. Es ist zu Vieles passiert in den letzten Jahren, Dinge, die unweigerlich ihre Spuren auf meiner Person und meinem Charakter hinterlassen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, mitsamt all diesen Erinnerungen an einen Ort zurückzukehren, der in meiner persönlichen Entwicklung Stagnation verkörperte. Egal, wie oft mein Gehirn mir versucht zu erklären, dass es einfacher war, angenehmer. Leichter.

 

Die Wahrheit ist, nirgendwo ist das Leben leicht. Das, was in Japan angenehmer ist und mich glücklicher macht, ist das, wo Deutschland für mich einen Mangel hatte. Und doch gibt es auch in Japan viele Punkte, an denen ich anecke und merke, wie es immer mehr auf meine emotionale Gesundheit schlägt. Oft erinnere ich mich an Worte, die mal jemand zu mir gesagt hat: "Vor Depressionen kann man nicht weglaufen. Denn sie stecken in einem drin."

 

Damals war ich der Auffassung, dass es mir vor allem meines Umfelds wegen schlecht ging. Und das war mit Sicherheit auch bis zu einem gewissen Punkt der Fall, gerade zu meiner Studienzeit in Trier. Aber diese inneren Gefühle des Zerrissen-Seins, die werde ich wohl immer mit mir tragen, egal wohin ich gehe.

 

Sehr oft erinnere ich mich daran, dass ich schon als kleines Kind meiner Mutter die Frage gestellt hatte, warum sie mich ausgerechnet auf diesem Planeten zur Welt bringen musste. Es fing früh an, dass ich gehänselt wurde. Ich erinnere mich heute noch an den Automaten mit der Fanta-Orange-Aluminiumdose, der ganz versteckt am Hinterausgang meiner Grundschule war. So gut wie niemand kam dorthin, weshalb ich nach der Schule manchmal neben dem Automaten im Hausflur saß und darauf wartete, dass alle Kinder, die mich hänselten, nachhause gingen. Bei mir war es egal, wann ich nachhause kam. Meine Mama war immer arbeiten und ich lief sowieso immer alleine nachhause. Wenn ich Taschengeld hatte, habe ich mir Fanta-Orange gekauft und sie getrunken. Manchmal kamen Erwachsene, die sich mit mir unterhielten. Vielleicht fanden sie es komisch, dass ich da war, vielleicht auch nicht, immerhin war es eine Schule. Egal, wo ich war, irgendwie hatte ich immer den Eindruck, ich sei nicht willkommen. Außer bei dem Automaten. Das war einer der safe spaces, die ich mir über die Jahre kreieren würde.

 

Bis zu den IJGD-Seminaren im Jahr 2016 durfte ich nie erfahren, wie es ist, in einer WhatsApp-Gruppe eingeladen zu sein. In allen Schulen und auch Freundesgruppen, denen ich beiwohnte, wurde ich nie zu einer Chatgruppe eingeladen. Nach meinem Abitur-Abschluss würde ich erfahren, dass andere Schüler meine beste Freundin fragten, wie sie mit mir befreundet sein könne - nein, wie ich überhaupt Freunde haben könne. 2016 beim IJGD war das erste und leider auch einzige Mal in meinem Leben, dass ich von einer Gruppe aufgenommen und akzeptiert wurde für die Person, die ich bin, mit all meinen bescheuerten Macken. Es reicht doch, dass ich mich schon immer selbst so fertig mache, und mich immer selbst so falsch fühle, für die Person, die ich nun mal einfach bin.

 

Ich konnte noch nie verstehen, wie in amerikanischen Filmen oder Serien es häufig Charaktere gab, die sich absolut unmöglich verhielten und denen trotzdem von den Leuten um die Person herum immer verziehen wurde. Selbst, wenn du den Vater deiner besten Freundin gebumst hast oder ein Gerücht in Umlauf gebracht hast, welches den Untergang einer anderen Person bedeutet - im Laufe der Geschichte heißt es für die Charaktere irgendwann Schwamm drüber. Noch nie habe ich verstanden, wie es möglich ist, dass jemandem so unverzeihbare Dinge verziehen werden, während ich nach einem Fehltritt oder Grenzüberschreitung bei einer Person, die ich als Freund empfunden habe, direkt die Freundschaft gekündigt bekam. Und es ist leider so, dass mir das so häufig passiert ist, dass der Gremlin in meinem Kopf so viel Futter bekommen hat, um mich den Rest meines Lebens damit zu nähren und mich falsch dafür zu fühlen, wer ich bin und mir immer und immer wieder zu erklären, was ich alles falsch mache, was für ein schlechter Mensch ich doch bin und dass ich allen Menschen immer nur Umständen bereite.

 

Dass es besser wäre, wenn ich niemals auf dieser Welt angekommen wäre, denn es wird mich sowieso niemals jemand genug mögen, um mir Fehltritte zu verzeihen.

 

Und die, die es im Moment noch tun, werden irgendwann aufhören und doch realisieren, dass sie mich eigentlich hassen.

 

Oder dass es besser wäre, wenn es mich gar nicht mehr gäbe.

 

Nicht nur die Leute im IJGD, sondern auch die wundervollen Leute, die ich im eiskalten und verschneiten Aomori kennenlernen durfte, gaben mir zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl von Gemeinschaft, von Zuhause. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich das einzige Gefühl von Zuhause nur in Anwesenheit meiner klitzekleinen Familie gefühlt. Ich weiß, dass ich eigentlich eine verhältnismäßig große Verwandtschaft habe, aber mit meiner klitzekleinen Familie meine ich meine Mutter, meinen Bruder und mich. Denn viele Jahre fühlte es sich an wie "us three against the world", die einzigen beiden, die Verständnis für mich zeigten und mir das Gefühl gaben, dass ich kein Unmensch bin. Der Rest der Familie gab mir seit meiner Kindheit das Gefühl, dass ich eigentlich nicht willkommen bin auf dieser Welt, nicht nur, weil ich ein Mädchen bin, sondern weil ich auch noch ausgerechnet das Kind "eines solchen Mannes" bin. Als ob ich jemals was dafür gekonnt hätte, wer mich gezeugt hat. Es ist pervers, dass Kinder für die Scheiße, die ihre Eltern eventuell verzapft haben, geradestehen sollen. Und dann ist sowas ja auch noch total individuell, soll heißen, nur weil bspw. meine Oma ein Problem mit meinem Vater und damit mit mir hat, heißt das ja nicht, dass mein Vater wirklich was Schlimmes getan hat. Manchmal mag man bestimmte Menschen einfach nicht und kann sich noch so verbiegen, zu versuchen, einen Frieden zu erzeugen - wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Trotzdem hätte ich es schön gefunden, wenn meine Oma mir eine Chance gegeben hätte, mich kennenzulernen, anstatt mir bestimmte Eigenschaften schon von vorneherein anzudichten. Aber wir leben eben in einer nicht besonders harmonischen Welt.

 

Leider musste ich feststellen, dass die Entfernung auch für die Beziehungen nach Deutschland, die ich immer als unzerbrechlich empfunden habe, nicht unbedingt hilfreich ist. Ich spreche nun den Elefanten im Raum an, der seit Ende letztem Jahres in meinem Wohnzimmer (und damit meine ich in der Mitte meines Herzens, in der er ganz un-Elefanten-like ein großes Loch hereinfrisst) mietfrei lebt.

 

Mein Bruder flog um die halbe Welt, um zu meiner Hochzeit zu kommen. Ich habe mich sehr auf ihn gefreut, ich hätte ihn so gerne in dem Anzug gesehen, den er extra hat für die Hochzeit herrichten lassen. Ich wollte ihm so gerne meine Schwiegerfamilie vorstellen, um ihm zu zeigen: "ich bin sicher hier, du musst dir keine Sorgen um mich machen, deine Schwester ist in guten Händen." Ganz zu schweigen von dem Fakt, dass meine Schwiegerfamilie schon ein halbes Jahr im Voraus von beinahe nichts anderem sprechen konnte als dass sie bald meine Mutter und meinen Bruder kennenlernen würden, meine klitzekleine Familie, der ich so viel zu verdanken hatte und von der ich immer nur positiv sprach. Und dann bekam mein Bruder Covid, nachdem er es die ganze Pandemie über nicht einmal (wissentlich) hatte, und wir standen vor einer schwierigen Entscheidung. Meine Schwiegerfamilie, die sich wie bereits erwähnt schon so lange auf ihn gefreut hatte, war bereit, das Risiko bewusst einzugehen, dass wir alle Covid bekommen und sie es auch mit nach Aomori tragen. Für mich war gerade der letzte Punkt besonders schwer zu akzeptieren, da ich mir einfach Sorgen um Ojiichan machte. Ich habe meinen Schwiegeropa sehr lieb gewonnen und habe im Vergleich zu all meinen neu gewonnenen Familienmitgliedern nicht sehr viel Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte und hoffentlich noch verbringen darf. Deshalb ist jeder Moment kostbar und als ich erfuhr, dass mein Bruder Covid-positiv war konnte ich an nichts anderes denken als an meinen Schwiegeropa.

 

Natürlich machte ich mir auch Sorgen um meine Schwiegereltern und - so blöd es vielleicht auch klingt - mich. Als jemand, der sein ganzes Leben lang mit Atemwegserkrankungen und damit verbundener Atemnot zu kämpfen hatte, war meine Sorge sehr groß, dass Covid bei mir echt reinhauen könnte. Dieses Jahr im Februar hat es mich dann auch endlich erwischt und ich bin froh, dass wir offenbar mit einer relativ abgeschwächten Variante des Virus' zutun hatten, denn ins Krankenhaus mussten wir nicht. Eine Hochzeit hätten wir in dem Zustand aber nicht genießen können, schon gar nicht unsere eigene.

 

Das ist also der offizielle Grund, warum mein Bruder nicht bei meiner Hochzeit anwesend war. Und ich bin mir sicher, dass es meiner Mutter besser damit geht, sich einzureden, dass es der einzige Grund war, obwohl sie anwesend war und alles live miterleben musste. Ich weiß, dass es ihr wehgetan hat und dass es ihr das Herz gebrochen hat, aber ich habe es satt, die ganze Zeit die einzige Person in der ganzen Auseinandersetzung sein zu scheinen, die nicht einfach so tut, als wäre nichts passiert. Fast jeden Tag holt es mich ein, dass ich zwei Tage vor meiner Hochzeit, - auf die ich mich monatelang gefreut habe, eine Zelebration meiner neu gewonnenen Familie, mit einem Partner, der mich wirklich mag, für die Person, die ich bin - mir wirklich bösartige Dinge an den Kopf werfen lassen musste, die mich sowieso schon mein ganzes Leben lang aufgefressen haben. Dass ich schlecht so bin, wie ich bin und es nicht einmal verdient habe, an meinem Hochzeitstag im Mittelpunkt stehen zu dürfen. Dieses Mal war es nicht der Gremlin in meinem Kopf.

 

Ich musste mir anhören, dass ich nicht empathisch bin, dass ich nur an mich denke und die Gefühle aller anderen Anwesenden ignoriere. Und das, obwohl mein allererster Gedanke war: "Scheiße, was bedeutet das jetzt wohl für meinen Schwiegeropa? Was für eine Entscheidung würden meine Schwiegereltern wohl treffen?" Während mir diese Dinge an den Kopf geworfen wurden, musste ich außerdem sehen, wie die Person, die diese Worte von sich gab, versuchte, meine weinende Mutter wortwörtlich "auf ihre Seite zu ziehen". Und wie meine weinende Mutter sich abwendete und dann verschwand, weil sie die Situation nicht länger aushalten konnte. Wie die besagte Person dann meiner Mutter hinterherlief, um sie zu trösten. Und wie das der erste Moment in mehr als 3 Jahren war, dass ich ein Gespräch mit meinem Bruder führen konnte. Fünf Minuten, das war alles, was wir hatten, und ich wurde sofort ruhiger und versuchte, weniger emotional an die Sache heranzugehen und eine Lösung zu finden, immer wieder wiederholend, dass ich erst einmal mit meiner Schwiegerfamilie sprechen müsste, bevor ich eine Entscheidung treffe, und dass ich jetzt nichts versprechen könnte. Aber dann kam die Person zurück und ging erneut auf mich los. Sie warf mir vor, ich würde meinem Bruder die Schuld dafür geben, dass er Covid hatte, was mich bis heute verwirrt, weil ich nicht einen einzigen Moment so etwas auch nur gedacht habe, geschweige denn gesagt. Er stand da und sagte, so schlecht ginge es ihm nicht, und er sah glücklicherweise auch nicht danach aus, als würde es ihm so schlecht gehen. Weshalb die Person mir dann vorwarf, ich würde mich nicht um ihn sorgen, was ich ebenfalls bis heute absurd finde. Wäre er zu diesem Zeitpunkt ohne Bewusstsein mit 40 Grad Fieber im Krankenhaus gewesen, wäre das die oberste Priorität auch meinerseits geworden. Doch er stand da, auf dem Gehweg, zwar schweigend und offensichtlich überfordert mit der Gesamtsituation (wie wir alle), aber auf die Frage hin, wie es ihm ginge, sagte er "gut". Weshalb ich in dem Moment dies nicht als oberste Priorität erachtete, denn unsere Hochzeit stand in zwei Tagen vor der Tür. Und die oberste Priorität war in diesem Moment, was für eine Entscheidung mein Mann und ich diesbezüglich treffen würden, vor allem aber ich, da mein Mann nicht anwesend war und grundsätzlich sowieso ich diejenige war, die so gut wie alles in Zusammenhang mit der Hochzeit geplant hatte. 

 

Hätte es diesen Streit nicht gegeben, dann hätten wir vermutlich alle gemeinsam entschieden, dass es zu schade wäre, meinen Bruder jetzt nicht auf die Hochzeit kommen zu lassen, nachdem er diesen weiten Weg auf sich genommen hatte. Ich weiß, ihr wollt es nicht hören, aber es ist die Wahrheit. Für mich war nicht seine positiven Tests ausschlaggebend, sondern der Fakt, dass ich mir von einer Person, die eine von insgesamt sechs Gästen auf einer Hochzeit gewesen wäre, deren Zeremonie extrem privat war, anhören musste, was für ein Monster in mir lebt. Dass ich angeblich unempathisch sei, überhaupt nicht an die Gefühle anderer Menschen denke und mich nicht um andere Menschen sorge oder direkt irgendwelche voreiligen Schlüsse treffe und sinnlose Schuldzuweisungen in den Raum werfe. Es gibt tatsächlich viele Dinge, die an meiner Person zu kritisieren sind, aber diese konkreten Punkte sind so ziemlich das Absurdeste, was mir jemals vorgeworfen wurde. Ich bin so empathisch, dass ich mich in fiktive Charaktere von Filmen und Serien ZU SEHR hereinfühle und deshalb keine allzu tragischen Geschichten vertragen kann. Ich sorge mich permanent um alle Menschen, die mir etwas bedeuten, so sehr, dass es manchen auf die Nerven geht (meine beste Freundin kann ein Lied davon singen). Manchmal weine ich einfach los, weil mir die Geschichte einer realen Person so nahegeht und ich mir vorstelle, wie es wäre, in ihrer Haut zu stecken. Und in jenem verhängnisvollen Moment war es dies: Das Wichtigste und Erste, was ich gedacht habe, war Schwiegeropa, Schwiegereltern, Ehemann. In der Reihenfolge. Nicht ICH, ICH, ICH - wie mir vorgeworfen wurde.

 

Mir fallen direkt sieben Leute ein, die so gerne auf dieser Hochzeit gewesen wären, aber nicht dabei sein konnten, weil wir uns letztendlich für eine "Familie-only"-Zeremonie entschieden haben. Und auch wenn es anfangs ein Hin und Her mit der Einladung war, so warst du letztendlich doch eine von den besonderen sechs Gästen, die als "Familie" und damit als Teilnehmer eingeplant war. Was hätten diese sieben anderen Leute gegeben, um mit dir tauschen zu dürfen. Denn sie sehen mich nicht als Monster, das nur an sich denkt. Diese Menschen kennen mich mit meinen Schwächen, aber lieben mich trotzdem, sie kennen mich, wie ich mich um andere Menschen kümmere, sie kennen die Seite von mir, die immer da ist, und nicht nur die hässlichste und ekligste Version von mir, die durch die Ungerechtigkeit hervorgebracht wird, die in meiner Familie immer so präsent war. Das ist die Seite, die du kennengelernt hast, die kaputteste Seite, die am meisten verwundete Stelle, in die so ziemlich seit dem Moment meiner Geburt immer wieder Salz gegossen wurde.

 

Der Grund, warum in meinen Texten und auch im direkten Gespräch mit mir immer nur vom "ich fühle, ich habe das gedacht, ich empfinde" die Rede ist, kommt daher, dass ich vor 7 Jahren gelernt habe, nicht mehr ins Vorwurfskarussell einzusteigen. "Du bist, du hast, deine Schuld" - das sind die Redewendungen, die ich bewusst nicht mehr verwende, nicht nur, um weniger angriffsorientiert auf jemanden zuzugehen, sondern auch, weil es mir hilft, zu realisieren, an welchen Stellen ich mich nicht okay verhalten habe. Gelehrt hat mich dies vor allem auch der IJGD, in deren Seminaren teilweise penibel darauf hingewiesen wurde, wenn jemand ein deutlich persönliches Statement von sich gab, es aber mit "man" formulierte, statt "man" - "ich" zu sagen. "Da hat man schon so das Gefühl, dass der Lehrer einige Schüler unfair behandelt" - nein, nicht "man" hat das Gefühl, sondern du.

 

Du bist die einzige Person, durch deren Augen du die Realität und die Welt um dich herum erlebst und deshalb ist auch alles, was du sagst, ein Ausdruck DEINER Gefühle und DEINER Eindrücke dieser Welt.

 

In Konfliktsituationen also eher von der eigenen Perspektive aus zu erklären, wie man etwas vielleicht aufgenommen oder wahrgenommen hat, ist eine Form der gewaltfreien Kommunikation. Die funktioniert aber leider nur, wenn das Gegenüber auch zuhört, vor allem aber hinhört, und dann auch ehrlich die eigenen Gefühle kommuniziert. Leider musste ich mir zwei Tage vor meiner Hochzeit Anschuldigungen und Vorwürfe anhören, deren Basis mir unbekannt sind, weil ich nicht lesen kann, was diese Person von mir denkt und sich über die Jahre für ein Bild von mir erstellt hat. Denn das war es, was sie mir an den Kopf warf: Eine Karikatur all meiner schlechten Eigenschaften auf Basis einiger weniger Eindrücke, die sie noch von mir als depressiver Teenager hat. Anstatt die Augen aufzumachen und offen zu sein dafür, dass ich mit fast 30 vielleicht auch kein kleines Kind mehr bin, dass nur nach Aufmerksamkeit schreit. Was jemand, der etwas Empathie in sich trägt, auch irgendwie nachvollziehen kann, denn ich bin seit meiner Kindheit von unserer Oma wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt worden, weil ich im Gegensatz zu meinem Bruder nicht das gewünschte Genital vorzeigen konnte. Eine Art der Folter, die meine Mutter ihr ganzes Leben durchmachen musste und vor der sie mich so gut sie konnte zu schützen versuchte, doch leider nicht 100%ig in der Lage war. Ich habe mich immer gefragt, warum mein Bruder mehr bekommt und ich dachte immer, dass es der Altersunterschied war. Aber selbst als ich dann auch langsam zu einer Erwachsenen heranwuchs, war es trotzdem immer noch unausgeglichen. Die Frustration, dass ich als Mädchen immer nicht gut genug war, war am Höhepunkt, als du in unsere Familie eintratst. Und was passierte? Unsere Oma empfing dich mit offenen Armen und stieß das Mädchen, das sie geboren hat, und das Mädchen, das ihr Mädchen geboren hat, zur Seite, aus dem Sichtfeld, denn wir waren niemals gut genug.

Ich habe meinem Bruder auch als kleines Kind nie die Schuld gegeben. Im Gegenteil, ich war immer der Auffassung, dass das Fehlverhalten eindeutig bei den umliegenden Erwachsenen lag, denn ich konnte nie feststellen, dass unsere Mutter uns auf dieselbe, verschiedene Art und Weise behandelte. Auch unsere direkte Beziehung fühlte sich immer eng und ehrlich an - auch wenn ich mir mehr als einmal wünschte, dass mein großer Bruder auch mal für mich einstehen würde, so wie es die großen Brüder im Fernsehen machten. Er erklärte mir irgendwann mal, dass er ja nur eine Oma hat, und ich ja zwei hätte und deshalb etwas mehr zum Teilen bereit sein sollte. Ich habe das nie vergessen und immer im Hinterkopf behalten.

 

Als du jedoch in unser Leben tratst, war schon alles in Scherben. Das, was du miterlebt hast, war nur das Ergebnis jahrelanger schlechter Behandlung kaputter Erwachsener gegenüber sensiblen Kindern. Ich weiß, dass mein Bruder auch sensibel ist, aber er geht diesen Aspekt seiner Persönlichkeit offenbar sehr anders an als ich, und lebt ihn obendrein auch sehr anders aus. Das heißt nicht, dass eins schlecht ist und das andere gut. Das heißt nicht, dass mein Bruder die Erlaubnis hat, sein gelebtes Leid zu teilen und ich nicht. Und genauso andersherum.

 

Fernbeziehungen können nur funktionieren, wenn die Kommunikation aufrechterhalten wird und man auch kleine Dinge des Alltags miteinander teilt. Nur auf diese Weise waren mein Mann und ich in der Lage, unsere Fernbeziehung schließlich in eine Ehe umzuwandeln. Und nur auf diese Weise bin ich heute in der Lage, mit meinen engsten Freunden eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, die nur über das Internet lebt. Klar, würde ich alle gerne wiedersehen, und das wird auch passieren, wenn ich das nächste Mal nach Deutschland komme oder eine/r von ihnen einen Ausflug nach Japan antritt.

 

Mein Bruder und ich hatten nie viel Kontakt, und ich hatte immer angenommen, dass es daran liegt, dass wir auch ohne viel Kontakt eine funktionierende Beziehung hätten. Leider musste ich feststellen, dass die fehlende Kommunikation über die Jahre Stück für Stück Risse in unserer Beziehung vertiefte. Ich habe kein Gefühl mehr für ihn und für seine Person, aber einer Sache war ich mir noch Monate vor meiner Hochzeit sicher: Irgendetwas würde passieren.


Im Gegensatz zu der Person, die in ihrem Kopf eine Karikatur meiner Person erstellt hat, habe ich nie etwas dergleichen auf sie bezogen getan. Natürlich hatte ich meinen Eindruck von ihr, generell hatte ich aber vor allem das Gefühl, dass wir beide einfach nicht miteinander klarkamen. Ein bisschen wie meine Oma und mein Vater vielleicht - manchmal passt es eben einfach nicht, da kann man noch so viel drehen und wenden, was nicht da ist kann man nicht erzwingen. Das Einzige, was für ein lang bleibender Eindruck in meinem Kopf zu ihrer Person da war, war ihre Art, im Mittelpunkt stehen zu wollen. Ich hatte sogar den Eindruck, dass wir das gemein haben (meaning; wir beide haben diese manchmal etwas anstrengende Eigenart) und aus Erfahrung heraus ist es mir bisher immer relativ schwer gefallen, mich mit Leuten anzufreunden, die diese Eigenart mit mir gemein haben. Meine ehemalige Mitbewohnerin hat diesen Charakterzug ebenfalls, doch der Unterschied ist, dass sie auch zuhören und vor allem auch hinhören kann. Wenn ich nicht gerade unter Stress stehe oder überstimuliert bin (also wenn es mir "gut geht"), dann kann ich auch gut zuhören, noch besser hinhören. Ich war schon immer sehr gut darin, auch mal zwischen den Zeilen zu lesen. Und das muss ich an dieser Stelle auch mal erwähnen dürfen, in einem Artikel, der eigentlich nur aufzeigt, wie ich mich immer nur selber heruntermache.

 

Es mag nur die wenigen Situationen sein, in denen wir aufeinander getroffen sind. Vielleicht wolltest du meines Bruders wegen so gut du konntest Frieden schließen. Vielleicht habe ich irgendwelche negativen Erinnerungen aus deiner Vergangenheit getriggert. Vielleicht aber hast du es auch gefühlt - dass wir beide einfach menschlich nicht zueinander passen. Der Punkt ist der, dass ich den Eindruck habe, dass du jemand bist, der nicht zuhören kann. Jemand, der das Spotlight nicht mal abgeben kann. Wäre es eure Hochzeit gewesen, hätte ich mich niemals so sehr in den Mittelpunkt gedrängt wie du es getan hast. Wäre es zwei Tage vor eurer Hochzeit gewesen, hätte ich mich zurückgehalten mit all den Dingen, die ich dir vielleicht gerne an den Kopf geworfen hätte. Und ich bin mir zu 90% sicher, dass es nicht mal so gewesen wäre - denn ich habe niemals solche Dinge über dich gedacht und hätte mich einfach nur für euch gefreut. Ich hätte mir Mühe gegeben, den Tag zu etwas Besonderem zu machen, dich als Königin in der Mitte, wie es sein sollte. Und wenn ihr meinen Mann aus welchen Gründen auch immer nicht mögt oder nicht dabeihaben hättet wollen, dann wäre das für mich auch okay gewesen und ich wäre alleine gekommen. Hättekönntesolltemüsste.

 

Ich hätte es schön gefunden, wenn nichts passiert wäre und ich mich in meinem Gefühl vorab getäuscht hätte. In einem Telefonat bat ich Mutti darum, dass wenn etwas passiert, sie mich nicht im Stich lässt, weil es sonst drei gegen einen sind und ich das an meinem Hochzeitstag wirklich nicht erleben möchte. Mutti ist ausgetickt, hat mich psycho genannt und hat mitten in einem hitzigen Telefonat aufgelegt. Meine Bitte vorab, dass mein Bruder alleine kommt, war nicht aus böser Absicht, sondern weil ich einfach ein ungutes Gefühl hatte. Ich wollte außerdem, dass mein Bruder dieselbe Erfahrung machen würde wie meine Mutter, den Familienurlaub, bei dem die Tokyo-Kyoto-Osaka-Attraktionen eben nur nebensächlich sind. Ich habe mir viel dabei gedacht, alle anwesenden zu bitten, am besten mehrere Wochen vor der Hochzeit einzureisen, sodass im Falle einer Covid-Infektion genug Zeit ist, um diese auszukurieren, bevor die Hochzeit ansteht. Aber wortwörtlich niemand hat meine Bitten erhört, ich wurde als Psycho abgestempelt und wer weiß was ihr euch ausgemalt habt, was für böse Gründe ich mir überlegt habe, dass ich meinen Bruder alleine dabeihaben wollte. Meine Mutter hat es nach all dem endlich verstanden und weil sie am Tag des Streits nichts sagen konnte, entschied sie sich, eine E-Mail zu schreiben. Sie verschwand an dem Tag fast einen ganzen Tag in meinem Zimmer, welches ich für ihren Aufenthalt für sie hergerichtet hatte und schrieb den Text in ihrem Notizbuch. Danach tippte sie den Text ab und zeigte mir die Mail. Ich sagte zu ihr: "Also ich würde das nicht so sagen, ich finde deine Worte viel zu nett", woraufhin sie mich beinahe erwartungsvoll ansah. Weshalb ich dann aber hinzufügte: "Aber schick es so ab, wenn du es für das Richtige hältst. Es sollen ja nicht meine Worte sein, sondern deine."

Sie schickte es so ab. Ein paar Monate später sagte mein Bruder ganz nebenbei zu meiner Mutter: "Aber wir wissen ja, von wem die Worte in der E-Mail wirklich stammen."

JA. VON MUTTI.

Denn wären es meine Worte gewesen, oh boy, da wäre definitiv weniger Blatt-vor-den-Mund dabei gewesen. Dass ihr echt denkt, ich wäre so ein Marionettenspieler, der sogar die Kontrolle darüber hat, was Mutti sagt. Ich kann das echt nicht mehr fassen.

 

Mein Bruder, ein Drittel der klitzekleinen Familie, die sich immer so echt angefühlt hat - ich habe die Beziehung zu ihm komplett verloren. Denn er kennt mich überhaupt nicht. Ich bin so traurig und so enttäuscht davon, wie er von mir zu denken schenkt. Und mit all dem, was passiert ist, fühle ich mich auch noch so ausgebremst in meiner Person. Ich darf nicht sein, wer ich bin, ich darf meine eigenen Gefühle und Gedanken nicht in Worte fassen, weil mein Bruder und die Person ja dann nur noch denken, ich würde nur an mich denken und nur von mir reden. Diese boshafte Schlange hat sich in meinen Kopf eingewieselt und versteht sich hervorragend mit dem Gremlin. Ist das wirklich eure Absicht gewesen, frage ich mich?

 

Als er mir schrieb, wie er die Situation wahrgenommen hat, stach eins besonders heraus: "Du bist sie angegangen." Das war für mich der letzte Tropfen. Ich finde es sinnlos, in Streitsituationen auszupacken "er hat angefangen", aber in diesem Fall war es einfach wirklich die Realität. Ich bin niemanden angegangen - im Gegenteil. Ich bin aufgrund meiner überfließenden Emotionen bewusst in die entgegengesetzte Richtung gegangen und brauchte eine Minute, um mich zu fangen. Doch diese Minute wurde mir nicht gewährt - sie kam direkt auf mich zu und sagte, ich solle reden, wenn ich noch nicht einmal das Gespräch, welches ich gerade zuvor mit meinem Mann auf japanisch(!) geführt hatte, verarbeitet hatte. Ich sagte ihr, dass ich nicht weiß, was ich ihr sagen soll und nicht reden kann, woraufhin sie sagte, ich solle reden, dieses Mal lauter und aggressiver. Daraufhin entstand der Streit.

 

Der einzige Streit, den ich in den letzten 3 Jahren hatte. So wie sie mit mir geredet hat, hat schon ewig niemand mehr mit mir gesprochen. So spricht man einfach nicht miteinander.

 

Was mich am Meisten an dieser Situation deprimiert, ist der Fakt, dass mein Bruder mich im Nachhinein zu gaslighten versucht, anstatt wenigstens zu VERSUCHEN, sich auch mal in meine Situation hineinzuversetzen. Selbst meine Mutter hat im Nachhinein gesagt "ich weiß ja gar nicht mehr, wer angefangen hat..." und ich hatte so die Schnauze voll davon, dass ich nach solchen Streitsituationen aus irgendeinem Grund diejenige bin, die alles abkriegt und dann auch noch erklärt bekommt, dass das, was ich erlebt habe, aus irgendeinem Grund nicht passiert ist? Muss ich in Zukunft ernsthaft meine Familienzusammenkünfte mit Video oder Audio aufnehmen, damit meine Familie nicht versucht, mich zu gaslighten? WIE IST ES GEKOMMEN DASS UNSERE BEZIEHUNG SO GEWORDEN IST???

 

Mein Bruder und besagte Person sind am Folgetag übrigens ins Disneyland gegangen, in dem Wissen, dass er Covid-positiv war und wir drei wissen, dass ihr regelmäßig die Maske zum Rauchen abgenommen habt. Aber mir vorwerfen, ich würde nicht an andere Menschen denken? Ich denke nur an mich, wenn ich bei meinem positiven Covid-Test direkt zwei Wochen zuhause bleibe, um niemanden anzustecken. Und ja, ich verstehe, dass ihr im Urlaub wart und das Geld nicht zum Fenster rausschmeißen wolltet. Aber ihr könnt mir nicht erklären, dass ihr die Hypocrisy davon nicht sehen könnt?!

 

Und mal ganz davon abgesehen, jede Person, wirklich JEDE, mit der ich auch nur ansatzweise darüber gesprochen habe, was geschehen ist, ist der Meinung, dass man zwei Tage vor der Hochzeit von jemandem vielleicht auch einfach mal die Zähne zusammenbeißen, die bösen Anschuldigen runterschlucken und einfach mal die Klappe halten kann, gerade wenn man nichts Nettes zu sagen hat.

 

Auch vor dem Streit, mir zu erklären, dass es meine Aufgabe wäre, die Tiere aus den Mini-Gehegen zu befreien, als ob ich in über 3 Jahren hier leben noch nicht gemerkt habe, an welchen Stellen Japan einfach scheiße ist. "Es ist nicht meine Aufgabe, ich würde mit solchen politischen Aktionen mein Visum riskieren..." - "DOCH! DOCH! DAS IST DEINE AUFGABE!"

 

Und da habe ich es runtergeschluckt, obwohl es mich echt wütend gemacht hat. Als ob sie mir eine ganz neue Information darbieten würde. Und das, obwohl sie keine Ahnung hat, wie es ist, hier zu leben. Was passiert, wenn ein Ausländer sich über etwas nicht-Ausländer-bezogenes beschwert? GENAU, dem Ausländer wird gesagt "wenn's dir nicht gefällt, dann geh doch nachhause!" Wie das in Deutschland auch gerne gemacht wird. Also hält der Ausländer seine Fresse, denn er empfindet Japan als Zuhause und will nicht gezwungen werden, in das Geburtsland, in dem übrigens auch nicht alles perfekt und rosig ist, zurückzumüssen. 

 

Ich für meinen Teil leide fast täglich darunter, dass wann immer ich an meinen Bruder denke, der Elefant ein weiteres Stück meines Herzens auffrisst. Ich hoffe, dass er irgendwann satt ist und mich in Ruhe lässt, denn der Schmerz ist nur schwer zu ertragen. Nicht eine einzige Entschuldigung habe ich bisher erhalten, nicht mal ansatzweise ein kleines bisschen Einsicht, dass vielleicht nicht nur immer Eva die Wurzel alles Bösen ist.

 

All die Jahre, in denen wir Konfliktsituationen hatten, habe ich danach immer versucht, beim nächsten Mal wieder eine Chance zu geben. Ich weiß nichts Genaues und es geht mich auch nichts an, aber mir wurde auch immer mal wieder gesagt dass "sie es auch nicht leicht gehabt hat". Ohne Details zu wissen, kann ich dafür Mitgefühl haben und auch Verständnis zeigen dafür, dass sie sich vielleicht manchmal auf eine Art und Weise verhält, wie ich es vielleicht nicht tun würde. Und das hatte ich jahrelang auch, weshalb auch immer ich den ersten Schritt gemacht habe. Und in den letzten Jahren musste ich dabei zusehen, wie meine eigene Mutter immer mehr auch die andere Seite ergriff, vermutlich um eben nicht auf Kriegsfuß mit jener Person stehen zu müssen, und alles meines Bruders zuliebe. Auch von mir aus war alles immer nur meines Bruders zuliebe. Aber können wir nicht einfach akzeptieren, dass wir einander nicht mögen und dass wir keine Freundinnen werden - MEINES BRUDERS ZULIEBE?

 

Denn so wie es jetzt ist, ist keine Zukunft in der Beziehung zwischen mir und meinem Bruder, etwas, was ich niemals für möglich gehalten hätte, denn ich habe meinen Bruder immer bedingungslos geliebt, immer zu ihm aufgeschaut und ihn immer bewundert. Nur dieses Mal möchte ich, dass auch er versteht, wie krass Scheiße hier gebaut wurde. Nicht nur, dass sie all diese Dinge einer Braut, die zwei Tage vor ihrer Hochzeit in einer Krisensituation versucht, für ebendiese Krise eine Lösung zu finden, an den Kopf geworfen hat, sondern auch, dass mein großer Bruder auch in dieser Situation nicht ein Mal der große Bruder sein konnte, der im Fernsehen gezeigt wird. Der große Bruder, der dazwischengeht, weil er sieht, dass auf seiner kleinen Schwester rumgehackt wird. Und der Fakt, dass er nicht dazwischengegangen ist, dass er nichts dagegen sagt, und dass er im Nachhinein auch noch versucht, die Narrative so zu drehen, dass die Person, auf dessen Seite er steht, unfehlbar ist, während seine kleine Schwester alles falsch gemacht hat, zeigt der Person, dass es keine Grenzen gibt und dass sie sich gegenüber der kleinen Schwester verhalten kann, wie sie will.

 

Am aller letzten Tag vor ihrer Abreise aßen wir gemeinsam Frühstück im Hotel. Ich war früher wach als alle und aß deshalb früher. Als die anderen kamen, trank ich nur noch Kaffee. Wir unterhielten uns ein bisschen und mir fiel es gar nicht auf, doch als meine Mutter und ich zurück ins Zimmer gingen, um unsere Tasche zu packen, saß sie ganz fassungslos auf dem Bett und sagte: "Wenn du redest, gucken sie auf ihr Handy. Da ist gar kein Respekt für dich. Kein bisschen." Und ich denke darüber auch heute immer noch viel nach.

 

Man kann natürlich nicht immer für alles die Kontrolle haben. Nur habe ich mir das alles anders vorgestellt. Mit meinem Bruder und meiner Mutter hier einen Monat vor der Hochzeit, ihnen das Japan zeigen, das meinen Alltag ausmacht. Ihnen zeigen, wie schön Onsen sind und wie lieb meine Familie ist. Dass die japanische Freundlichkeit im Service kein Mythos ist. Wie gut ich Japanisch sprechen kann, aber wie anstrengend es auch gleichzeitig ist, für mich immer zwischen den zwei Sprachen hin- und herzuspringen, die so verschieden sind.

 

Ich bin froh, dass wenigstens meine Mutter dieses Erlebnis machen konnte. Leider waren es eben nur 50% von den gewünschten 100% und ich bin sehr traurig, dass mein Bruder nicht die wirklich schöne und spirituell sehr intensive Hochzeitszeremonie erleben konnte, die so anders ist, als das, was eine "traditionell japanische Hochzeit" ausmacht. Ich war vor Kurzem auf so einer. Alles super kitschig und so westernized wie möglich. Wie Vieles in Japan halt.

 

Aber ich bin froh, dass die Person, die mich als Monster sieht, dass nur an sich denkt und keine Empathie hat, nicht dabei war. Es war der einzige Grund, dass ich auf den Bildern so ein schönes Lächeln zeigen konnte, weil all die Sorge darum, dass etwas passieren würde, quasi mit einem Mal wie weggeblasen wurden. Meine Schwiegerfamilie hat sich die größte Mühe gegeben, meine Mutter aufzumuntern wo sie nur konnten und "das Beste draus zu machen", auch wenn ich weiß, dass sie ebenfalls sehr traurig über die ganze Situation waren.

 

Denkt ihr wirklich, dass mich jemand geheiratet hätte, wenn ich die Person wäre, die ihr mir vorgeworfen habt, zu sein? Seid ihr wirklich der Ansicht, dass jemand, der so klug und aufrichtig ist wie mein Mann, die Monsterfassade durchschaut hätte?

 

Ob ihr's glaubt oder nicht, er hat sich für Mitgefühl entschieden, statt für Vorurteile und Anschuldigungen. Er hat mich getriggert erlebt, er hat Situationen miterlebt, in denen ich mich nicht von meiner besten Seite zeigen konnte, aber er hat nachgefragt, woher es kommt und hingehört. Er versteht, dass ich kaputt bin, aber es gleichzeitig auch vieles an mir zu lieben gibt, und glaubt es oder nicht, meine Empathie ist einer der Gründe, warum er sich in mich verliebt hat. Meine Art, mich immer so um andere zu kümmern, ist genau das, was ihn zu mir hingezogen hat.

 

Der springende Punkt ist, großer Bruder, ich bin nicht mehr allein. Und ich bin kein kleines Kind mehr. Ich bin eine erwachsene Frau und ich lasse mich nicht wie Scheiße behandeln, von dir nicht und auch nicht von jemandem, der dir wichtig ist. Das habe ich nicht verdient. Und so wie sie mich behandelt, würde ich niemals mit ihr (oder irgendwem anders, for that matter) umgehen. Ich kann Mitgefühl und auch Verständnis für ihr Verhalten haben, auch wenn ich nicht weiß, woher es kommt, aber das heißt nicht, dass ich mich deswegen schlecht behandeln lassen muss. Von ihr genauso wenig wie von Oma oder meinem Vater. Ich - genauso wie alle anderen Menschen btw!!! - habe es verdient, dass man mich mit Respekt und Liebe behandelt. Du weißt nicht, was in mir brodelt und wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, mich aus dieser Welt endgültig zu verabschieden. Und genauso weiß ich es nicht von dir oder ihr oder sonst-wem. Und deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir einander mit Verständnis, Respekt und Freundlichkeit begegnen sollten, sowie Bedürfnisse und Wünsche voneinander respektieren und akzeptieren können, auch wenn wir sie vielleicht nicht nachvollziehen können. Als ich jünger war, wurde ich nicht mehr auf Parties von Freunden eingeladen, weil alle meinen boyfriend für ne Schlaftablette hielten... und was habe ich gemacht? Ich bin halt ohne ihn gegangen - nur weil ich ihn liebte, hieß das ja nicht, dass alle anderen ihn auch lieben mussten - bzw. nur weil alle anderen ihn nicht mochten, hieß das ja nicht, dass ich ihn aufzwingen musste. I didn't mind and he didn't mind and neither should you have.

 

Es wäre schön gewesen, wenn meine Wünsche und Grenzen respektiert worden wären. Aber das war nicht der Fall und jetzt sind wir hier. Wer weiß, wie oft es in deinen Gedanken Platz hat. Ich werde es nie wissen, außer du kommunizierst es mir. Aber das erwarte ich nicht mehr.

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